Dorothee Bittscheidt hat am 10.06.2013 im AKS Hamburg einen Vortrag zu sozialräumlichen Hilfen und Angeboten mit dem Titel „Steuerung der Hilfen zur Erziehung – auch mit Hilfe des Programms SHA?“ gehalten.
Das Skript des Vortrags ist hier als PDF und im Folgenden als Text abzurufen.
„Steuerung der Hilfen zur Erziehung – auch mit Hilfe des Programms SHA?“
(Dr. Dorothee Bittscheidt – Vortrag im Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg am 10.06.2012)
In Hamburg, wie in vielen Kommunen Deutschands, ist die Konzeption, Planung und Umsetzung „sozialräumlich orientierter Hilfen“ mit der Erwartung verbunden, Hilfen zur Erziehung vermeiden oder jedenfalls einschränken zu können. Das soll durch eine stärkere Einbindung und Nutzung anderer – eben sozialraumorientierter, meist infrastruktureller – Angebote für Familien geschehen. Ich will zunächst den Hintergrund dieser Intention ein wenig plausibel machen.
1. Der Hintergrund der Steuerungs- und Umsteuerungsthematik
Über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren haben die erzieherischen Hilfen deutlich zugenommen:
So stiegen z.B. die Fallzahlen für Familienersetzende Hilfen (insbesondere Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen) in Hamburg zwischen 1999 und 2010 von 3643 auf 4458, die Fallzahlen für Familienergänzende Hilfen (insbesondere Sozialpädagogische Familienhilfe) im gleichen Zeitraum von 425 auf 5590 (Quelle: Jugendamtssoftware Projuga).
Da es sich bei den Hilfen zur Erziehung um individuelle Rechtsansprüche handelt, kann über die Haushaltsansätze hinaus Geld im Landesparlament, der Bürgerschaft, „nachgefordert“ werden, wenn die Kasse leer ist – was in den letzten Jahren auch mit großer Regelmäßigkeit geschehen ist. Das ist deutlich anders als bei anderen Jugendhilfeleistungen, also z.B. den offenen Angeboten. Dennoch sind diese von der Dominanz der erzieherischen Hilfen mit betroffen. Der Gesamthaushalt Jugend steigt nicht automatisch mit den Steigerungsraten der HzE. Hilfen zur Erziehung vermeiden oder jedenfalls einschränken zu können durch eine stärkere Einbindung und Nutzung anderer – eben sozialraumorientierter, meist infrastruktureller – Angebote für Familien scheint ein lohnenswertes Ziel – und auch wohl notwendig, wenn man sich fachlich von der heutigen Situation ein Bild macht.
In einem Diskussionsbeitrag zum Verhältnis sozialräumlich orientierter Angebote und Hilfen zur Erziehung hat Peter Hoffmann, Leiter einer Abteilung der Allgemeinen Sozialen Dienste im Bezirk Altona (Hamburg), die Notwendigkeit eines Umbaus der Hilfelandschaft begründet (Dokumentation der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration 2011). Ausgehend von seinen Beobachtungen in den vergangenen Jahren, „dass die wenigsten Familien den ASD als Selbstmelder aufsuchen“ und auch „kein eindeutiger Zusammenhang zwischen der entsprechenden Anzahl der ambulanten Hilfen zur Erziehung und den sich verschlechternden Lebenslagen von Familien mit Kindern“ besteht, stellt er fest, dass „Hilfe zur Erziehung als Maßnahme auch gewählt (wird), weil es an zuverlässigen Alternativen fehlt.“ Dabei werde „nicht ausreichend beachtet, dass Hilfen zur Erziehung in der Regel auf der Freiwilligkeit des Antragstellenden beruhen (müssen – D.B.). Es besteht ein Rechtsanspruch jedoch keine ‚Rechtsverpflichtung’, diese Leistung in Anspruch zu nehmen. […] der Erfolg dieser Maßnahme ist bei Nichtbeachtung dieser Voraussetzung eingeschränkt.“ Hoffmann begründet mit regional erhobenen Daten zur Entwicklung sozialräumlich orientierter Projekte und ihren Auswirkungen auf die Hilfen zur Erziehung, dass diese Projekte durch offene Zugänge mehr Familien erreichen, die Eskalation von Problemen vermeiden helfen und – wegen der Freiwilligkeit im Zugang zu Hilfen – nachhaltigere Wirkung haben als die Hilfen zur Erziehung (vgl. ebd. S. 8f.).
Hoffmanns Argumentation wird durch die Ergebnisse einer Arbeit von Kunstreich ergänzt (2012). In dieser ist darüber hinaus erkennbar, wovon die Wirkung sozialräumlicher Angebote abhängt. In seiner empirischen Untersuchung zweier in ihrer sozialen Belastungsstruktur vergleichbaren Regionen in Hamburg findet er eindrucksvolle Belege dafür, dass „offene, nachfrageorientierte und eher (themen-)unspezifische Angebote“ an Familien Problemkarrieren zu Erziehungshilfefällen früher und deutlich häufiger verhindern als „Infrastrukturangebote mit themenzentriertem Programm und klarer Zielgruppenorientierung“ (2012, S. 3).
Dieser Arbeit zufolge ist der Erfolg der Umsteuerung insbesondere davon abhängig, ob die infrastrukturellen Hilfen und Angebote im Sozialraum aus der Sicht der Nutzer_innen leicht zugänglich sind und von ihnen als wirksam bei der Lösung ihrer Probleme angesehen werden.
Eine solche Erkenntnis erscheint wenig überraschend. Sie ist – als Wille der Adressat_innen – der gemeinsame Ausgangspunkt, den die Befürworter_innen eines sozialräumlich orientierten Umbaus in einem idealtypischen Konzept eines Hilfeprozesses zentral setzen. Ausgehend davon skizzieren sie den Zusammenhang von sozialräumlich orientierter Hilfe und der Eingrenzung von Hilfen zur Erziehung (vgl. bspw. Hinte 2006 und 2012, Budde und Früchtel 2006 mit den in diesem Band versammelten Beiträgen verschiedener Autor_innen):
Eine vom Willen der Adressat_innen ausgehende Sozialraumorientierung in Hilfeprozessen soll darauf fokussieren, eine bestimmte Unterstützung und Hilfe in einer von ihnen selbst als Problem empfundenen Situation zu bekommen. Die Anbieter sozialräumlich orientierter Hilfen beraten und ermutigen die Hilfesuchenden, eigene Potenziale und Hilfen aus ihrem persönlichen und sozialen Umfeld zu nutzen; sie bieten weitere Unterstützung und Ressourcen an und begleiten die Hilfesuchenden dabei, sich diese verfügbar zu machen bzw. stellen diese zur Verfügung. Solche Anbieter von Hilfe sind weitgehend unspezialisiert in ihrem Leistungsprofil, und sie sind daher im Sozialraum für die Nutzer_innen leicht zugänglich. Sie haben zu (fast) jedem Hilfeanliegen eine Antwort oder sind in der Lage, diese zu organisieren und verfügbar zu machen. Sie sind räumlich und sozial nahe an den Problemen der Bewohner_innen des Sozialraums, und sie sind in der Lage, Hilfenetzwerke mit anderen Anbietern und auch unter Bewohner_innen zu knüpfen und Vertrauen in den Hilfeprozess zu schaffen.
Vertreter_innen der Sozialraumorientierung erwarten bei einer Ausweitung und Verstärkung solcher sozialräumlich orientierten Projekte, dass einige der ansonsten im Allgemeinen Sozialen Dienst anfallenden Probleme über diesen sozialräumlichen Zugang einer Lösung zugeführt werden. Andere landen zwar im ASD an, dann jedoch mit einem spezifischen, eingegrenzten Hilfebedarf.
Die Hilfe zur Erziehung soll nach diesem Konzept also ersetzt, hinausgeschoben und verkürzt werden bzw. im Umfang der Leistung eingegrenzt. So weit, so gut – und in Anbetracht der empirischen Belege über die Voraussetzungen der Wirksamkeit von Hilfen – überfällig.
Also: Je mehr von diesen Angeboten, umso weniger HzE? Ist das die Intention und die Kalkulation? Auf den ersten Blick: Ja! Der, der ein Problem hat, findet Hilfe im Sozialraum und muss nicht zum Jugendamt? Aber: Habe ich aber nicht gerade mit Herrn Hoffmann behauptet, dass die wenigsten Familien den ASD als Selbstmelder aufsuchen? Und doch nur für sie würde – nach dieser sozialräumlichen Lesart – gelten, dass die Hilfe vor Ort den Weg als Selbstmelder erübrigt. Oder anders gesagt: Die Hilfen zur Erziehung sind nicht deshalb so angestiegen, weil es weniger oder zu wenig offene Angebote gibt.
2. Wer oder was steuert also HzE ? Das ist mein zweites Thema.
Die Forschungsgruppe um Schrapper hat über mehrere Jahre Fallzahlen und Kosten der erzieherischen Hilfen im Vergleich von Großstadtjugendämtern der Bundesrepublik untersucht. Sie stellt große Unterschiede in zentralen Kennzahlen fest:
„Die Leistungsdichten (Hilfen pro 1000 0–21-Jährige) schwankten für die laufenden Hilfen im Jahr 2009 zwischen 23,3 und 59,1 bei einem Mittelwert von 39,5; […]
die Kosten pro Fall schwankten zwischen 11.618 Euro und 20.104 Euro bei einem Mittelwert von 15.150 Euro“ (Enders, Petry, Schrapper 2012, S. 178).
Es sind nicht die unterschiedlichen Lebensbedingungen in den Großstädten, die diese Unterschiedlichkeit erklären. Auch die Maßzahlen zur Infrastruktur tragen als Einflussgrößen nicht viel zur Erklärung bei. Sehr viel wichtiger sind zwei andere Einflussgrößen.
Die erste bezieht sich auf den ASD.
Die wichtigste Ressource der Steuerung der HzE ist das Personal im ASD in ausreichender Qualifikation und Stärke – das ist in Hamburg derzeit am wenigsten abgesichert (Drs.20/1269 und 20/1280) – darüber hinaus die Organisation und Kultur des Allgemeinen Sozialen Dienstes, also die Organisation der Fallsteuerung in den Allgemeinen Sozialen Diensten.
Die zweite Einflussgröße ist das Angebot, also Verbreitung, Angebot und vor allem der Einfluss der Träger erzieherischer Hilfen auf die Verteilung der Beauftragung durch das Jugendamt. Die Situation des ASD und sein Verhältnis zu den Trägern der erzieherischen Hilfen entscheiden ganz wesentlich über die HzE-Zahlen.
Ein Beispiel: Ein schlecht ausgestatteter ASD sorgt für Entlastung, indem er Anbieter erzieherischer Hilfen sehr früh beauftragt, ihm die Fälle abzunehmen.
Wie Zschau und Wessels in ihrer Untersuchung zeigen (vgl. Beitrag in diesem Buch), sind die Anbieter erzieherischer Hilfen dabei oft auch beauftragt, den Hilfebedarf selbst erst einmal genauer zu prüfen und festzustellen. Dabei steht in der Regel nicht die Frage im Vordergrund, welches Ansinnen die Leistungsberechtigten selbst in den beginnenden Hilfeprozess hineintragen (vgl. auch Kentmann in diesem Buch). Ein schlecht ausgestatteter ASD ist zu wenig in der Lage, die Fälle weiter zu begleiten, Hilfeplankonferenzen werden seltener, die Möglichkeit der Beendigung oder Umwandlung einer Hilfe wird nicht geprüft.
Allerdings ist trotz der insgesamt massiven Hinweise der Einfluss der Träger erzieherischer Hilfen auf Ausmaß und Intensität der HzE ein auch von Schrapper ein bisher nicht untersuchtes Feld. So bleibt die Frage empirisch unbeantwortet, welchen Einfluss, die Träger erzieherischer Hilfen als Leistungserbringer auf Fallaufkommen und Kosten der Hilfen zur Erziehung nehmen und mit welchen Vereinbarungen sie mit den kommunalen Akteuren diesen Einfluss absichern.
Dennoch, mein Zwischenfazit:
Im Hinblick auf die angesprochenen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der HzE spricht wenig für die Erwartung, ein Ausbau sozialräumlicher Angebote würde quasi automatisch HzE eindämmen. Ein ausgeprägter Einfluss von HzE-Trägern auf das Fallaufkommen wirkt kontraproduktiv.
Und schließlich komme ich zu meinem dritten Thema, was den Einfluss auf die HzE-Zahlen betrifft:
3. Die externe Steuerung der Fälle im ASD durch die Meldungen von Polizei und Schule
Der oben skizzierte idealtypische Hilfeverlauf der Protagonist_innen der Sozialraumorientierung beschreibt die typische Praxis der Meldungen an den ASD nicht. Er unterstellt – wie bereits erwähnt – „Selbstmelder_innen“ oder, dass das im Sozialraum tätige Projekt ein Anliegen an den Allgemeinen Sozialen Dienst heranträgt. In beiden Fällen steuern – wenigstens nach dem konzeptionellen Grundgedanken – die Adressat_innen der Hilfe den Prozess: ihr Wille, ihre Potenziale und die Unterstützungsmöglichkeiten in ihrem Sozialraum sind die entscheidenden Größen, die ein Allgemeiner Sozialer Dienst nutzt, um im eigenen Handeln wirksam sein zu können. Diese beiden Gruppen von Meldungen machen – in Hamburg – mit ca. einem Drittel aber den kleineren Teil aller Meldungen aus.
Mehr als ein weiteres Drittel aller Meldungen sind Kontaktaufnahmen durch Organisationen. Davon geht die überwiegende Zahl der Kontaktaufnahmen von der Polizei und der Schule aus, die den Allgemeinen Sozialen Dienst als Adressaten für Probleme nutzen, die aus ihrer jeweiligen Sicht den Verdacht der Kindeswohlgefährdung nahelegen (vgl. Jahresbericht 2011 der Bezirksämter zum Kinderschutz).
Eine Kindeswohlgefährdung bezieht sich in diesen Meldungen auf den Verdacht, dass Kinder und Jugendliche (bis zum Alter von 18 Jahren) durch die häusliche Situation bedroht sind und/oder ihr eigenes Verhalten eine Gefährdung des Kindeswohls anzeigt. Solche Meldungen kommen etwa in 80% von der Polizei. Deren Meldungen sind in den letzten Jahren ständig angewachsen. In ebenfalls in den letzten Jahren steigender Zahl kommen sie von der Schule, die sich dabei nicht nur der Organisation der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren bedient, sondern mehr und mehr den Weg über die den Schulen zugeordneten Polizeibeamten (Cop4U) wählt. Fast die Hälfte dieser Meldungen von Polizei und Schule bezieht sich auf Delinquenz. Die Melder werten die Delinquenz von Kindern und Jugendlichen als einen Hinweis auf Kindeswohlgefährdung.
Alle Meldungen mit einem Hinweis auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung werden vom Allgemeinen Sozialen Dienst (anhand von Kriterien eines Erfassungsbogens zur Erstbeurteilung) unter dem Gesichtspunkt eingeschätzt, ob es einen Gefährdungsverdacht gibt und was aus seiner Sicht zu tun ist. Der Kinderschutzbericht 2011 weist aus: Über alle Meldungen gezählt wird in 1% eine Gefährdung als sicher angenommen, in 20% kann eine Gefährdung nicht ausgeschlossen werden. In 8% aller Meldungen wird ein Hausbesuch im Sinne einer „Krisenintervention“ für erforderlich gehalten, in 40% soll ein Kontakt innerhalb einer Woche aufgenommen werden, und in 33% soll eine „weitere Recherche“ erfolgen (vgl. Jahresbericht 2011, insbesondere S. 8 und 13).
Die im Kinderschutzbericht analysierten Daten lassen viele Fragen unbeantwortet, insbesondere, bei welcher Art des angezeigten Problems der Allgemeine Soziale Dienst wie reagiert. Es lässt sich allerdings aus den Auswertungen nicht nur ablesen, dass sich die Fallgruppen, bei denen ein Eingreifen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen Sozialen Dienst für unmittelbar erforderlich gehalten wird, insgesamt zu einem geringen Prozentsatz aller Meldungen addieren. Differenziert man in dieser Fallgruppe nach dem Alter, betreffen solche Fälle zu höheren Prozentsätzen die 14-18jährigen Jugendlichen, zu geringeren kleine Kinder, die auf diesen Schutz ganz besonders angewiesen sind oder in ihrem Leben bedroht sein könnten, wenn der Allgemeine Soziale Dienst nicht eingreift. Daher untermauert dieser Bericht die Vermutung, dass sich die Meldungen zu Kindeswohlgefährdung in den letzten Jahren auch zu einem Verfahren verfestigt haben, mit dem sich die Polizei und die Schule (zu einem wachsenden Teil der Fälle mit Hilfe der Polizei) zu Lasten des Allgemeinen Sozialen Dienstes ihrer „Probleme“ entledigen. Dabei entlastet sich die Schule von Problemen, die sie mit einzelnen Kindern und Jugendlichen hat, die Polizei, wenn sie Delinquenz wegen Strafunmündigkeit oder geringer Schwere des Delikts nicht weiter verfolgen kann.
In der Bearbeitung dieser Meldungen ist der Allgemeine Soziale Dienst zwar formal Herr des Verfahrens. Er kann entscheiden, dass die Meldungen keine Gefährdung anzeigen. Er kann zu dem Ergebnis kommen, dass die Devianz von Kindern in der Schule in dem jeweiligen Einzelfall kein Problem der Familie und ihres Umgangs mit den Kindern ist. Beides geschieht.
Dennoch: Im Vergleich zu der normalen Fallsteuerung ist das Problem, das den Allgemeinen Sozialen Dienst mit diesen Meldungen erreicht, vordefiniert, allerdings eben nicht durch das Hilfeersuchen einer Familie. Es ist vielmehr vordefiniert von Institutionen, die für sich das Mandat beanspruchen, den Allgemeinen Sozialen Dienst zum zügigen Handeln zu veranlassen. Und sie tun dies, wie die Reaktionen des Allgemeinen Sozialen Dienstes auf die Meldungen anzeigen, oft unabhängig davon, ob das angezeigte Problem eines der Erziehung in der Familie ist. Es bedarf daher neben der zeitlichen Ressourcen für die notwendige Recherche im Einzelfall eines hohen professionellen Selbstbewusstseins der Mitarbeiter_innen im Allgemeinen Sozialen Dienst, diese Meldungen als nicht in ihre Zuständigkeit gehörend festzustellen, sie zu ignorieren oder aber an die meldende Organisation zurück zu verweisen. Das setzt erfahrenes Personal voraus, das oftmals nicht vorhanden ist, und es bindet Zeit, die für das normale Geschäft, auch das der Steuerung der Hilfen zur Erziehung mit Hilfe einer stärkeren Sozialraumorientierung, fehlt. Verschlimmert wird diese Situation noch dadurch, dass einige dramatische Fälle von Verwahrlosung bei Kleinkindern den ASD öffentlich und medial an den Pranger stellen.
Der Allgemeine Soziale Dienst ist also weit davon entfernt, Schaltstelle der Steuerung und der Umsteuerung der Hilfen zur Erziehung zu sein beziehungsweise sein zu können. Der rasante Anstieg der SPFH hat hier seine Ursache: HzE wird zu einer Medizin, die für alles verordnet wird, unabhängig davon, ob sie zum Problem passt und ob sie hilft. Und das auch – wie Peter Hoffman sagt – weil es – aus der Sicht des ASD – an „zuverlässigen Alternativen“ fehlt.
So sieht der Hintergrund für das Programm SHA aus, das ich jetzt nur noch kurz skizziere – in der Annahme, dass wir darüber im Folgenden diskutieren.
4. Das SHA-Programm
Der ASD soll über andere Hilfen entscheiden können als nur über HzE, über solche, die passen und helfen.
Entsprechend sollen in sozialräumlichen Projekten Anbieter sehr unterschiedlicher Leistungen eng zusammenarbeiten,
– soll der Allgemeine Soziale Dienst eingebunden sein,
– wird von Trägern der Hilfen zur Erziehung gefordert, dass sie im Sozialraum zu Hause und willens und in der Lage sind, sich mit „offenen Angeboten“ über den Bedarf im Einzelfall gut abzustimmen und eng zu kooperieren (vgl. GRJ 1/12)
Das Programm setzt allerdings darüber hinaus einen zusätzlichen Akzent, der die Offene Kinder- und Jugendarbeit und andere offene Beratungsangebote für Familien nachhaltig betrifft. Alle Projekte, die aus diesem Programm finanziert werden wollen, sollen im Kontext ihres „offenen Angebots“ in Kooperation mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst des zuständigen Jugendamtes „verbindliche Einzelhilfen“ übernehmen (GRJ 1/12). Die Zahl der von ihnen zu bearbeitenden „verbindlichen Einzelfallhilfen“ wird vertraglich mit ihnen vereinbart. Die Zuwendung an diese Projekte ist, zumindest längerfristig, von der Erfüllung dieser Auflage abhängig.
Vor dem Hintergrund der von mir geschilderten Problemlage ist dieses Merkmal des Programms SHA verständlich. Vergleichbar seinen anderen Aufgaben muss der ASD die in seiner Verantwortung an Träger weitergeleiteten Probleme im Blick behalten, z.B. im Prinzip neu entscheiden können, welche Hilfe geeignet ist. Damit aber wird von diesem Zweig der Jugend- und Familienhilfe, auf die der Auf- und Ausbau der infrastrukturellen Angebote, der Alternativen zu HzE, ja setzen muss, ein geradezu paradigmatischer Wandel ihres Arbeitsverständnisses gefordert. „Daran wird“, so die Feststellung von Essberger, Gerbing und Lutz, „der in der gesamten Entwicklung sichtbare Konflikt beziehungsweise doppelte Anspruch – sozialräumlich orientierter Ausbau der Infrastruktur und Etablierung von Alternativen zu Hilfen zur Erziehung – zugespitzt sichtbar.“
Gegen diesen doppelten Anspruch, zugleich infrastrukturelle Angebote aufzubauen und im Zuge dessen Alternativen zu den Hilfen zur Erziehung zu entwickeln, wird aus der Sicht der Vertreter_innen des sozialräumlichen Konzepts prinzipiell wenig eingewandt. Er ist, insbesondere abzulesen an der Idee der Sozialraumbudgets, immer mehr oder weniger explizit verfolgt und dabei von vielen geteilt worden. Jetzt allerdings, wo dieses Programm so ausdrücklich als Alternative zu HzE konzipiert ist, stellen sich – zugespitzt – einige Fragen, die ich gern mit diesem Kreis diskutieren möchte:
- Liegt die in der offenen Arbeit angenommene Provokation im wesentlichen darin, dass die aus einer offenen Arbeit im Einzelfall entstehende verlässliche Hilfe, die im Unterschied zu einer erzieherischen Hilfe durch die darauf spezialisierten Träger aus dem Kontext der offenen Arbeit entsteht, dem Allgemeinen Sozialen Dienst gemeldet werden muss und damit die zentralen Prinzipien der offenen Arbeit und niedrigschwelligen Unterstützung, insbes. Freiwilligkeit und Anonymität, aufgegeben werden müssen?
- Oder liegt sie vielmehr darin, dass der Allgemeine Sozialen Dienst Probleme, auch solche, die nicht aus dem Hilfekontext in der offenen Arbeit kommen, als „Fälle“ in die offene Arbeit „einsteuert“ und auf diese Weise auch Adressat_innen in diese Angebote schickt, bei denen auch der ASD keineswegs sicher ist, dass das Angebot ihrem Willen und ihrem Unterstützungsbedarf entspricht?
- Fürchten die Träger, dass mit dieser neuen Praxis auch die Kontrollinteressen anderer Organisationen – insbesondere der Schule und der Polizei – Eintritt in die offene Arbeit finden?
- Oder liegt sie auch darin, dass hier eine Hilfe, die auf den Einzelfall orientiert ist, anders bezahlt werden soll als für eine erzieherische Hilfe aufzuwenden wäre und diese Hilfe aus dem Etat der für diesen Träger vereinbarten Zuwendungen aufzubringen ist?
- Und steht nicht zuletzt mit Blick auf die Vereinbarungen über die Anzahl der zu leistenden Hilfen die Frage im Raum, welches Angebot – Einzelhilfen oder Offene Angebote – dann den Alltag dominiert?
Die Leitlinien des Programms zur Umsteuerung der erzieherischen Hilfen werfen also Fragen auf, die weiterer Bearbeitung und einer mit den Trägern zu führenden Diskussion bedürfen. Der Erfolg für die Umsteuerung der erzieherischen Hilfen wird offenbar nicht nur davon bestimmt, ob sozialräumliche Projekte und Netzwerke die ihnen zugedachte Rolle im Hilfeprozess einnehmen, sondern vor allem davon, ob der Allgemeine Soziale Dienst in seiner Entscheidungspraxis die Leitlinien des Programms ausfüllt und dabei das Instrument „verbindliche Hilfen“ nur nutzt, wenn diese Hilfe von den Adressat_innen gewünscht wird, also ihrem Willen entspricht.
Dazu müssten beide Seiten, ASD und SHA-Projekte, nicht nur Bereitschaft aufbringen, sondern sich auch jeweils der (personellen) Ressourcen sicher sein können, die ein solcher Prozess braucht.
Achtung!: Das Datum ist mit 10.06.2012 falsch angegeben. 2013! HG LW
Danke für den Hinweis! Ist korrigiert…