13.07.2015: Für die Verwirklichung der UN Kinderrechts-Konvention statt Überwachen und Erniedrigen in den Grauzonen der Hilfen zur Erziehung!
Dass aus Heimkarrieren unter den Vorgaben des KJHG/SGB VIII Maßnahmen-Karrieren geworden sind, ist bekannt. Bekannt ist auch, dass am Ende beider Karrieren die geschlossene Unterbringung stand und steht. Sah es in den achtziger Jahren so aus, als würde die die geschlossene Unterbringung insgesamt abgeschafft und sah das neue KJHG dieses Instrument ausdrücklich nicht vor, so hat sich die Zahl der geschlossenen Unterbringungsplätze in den letzten 20 Jahren von ca. 125 auf knapp 400 mehr als verdreifacht. Nach der tendenziell positiven Evaluation der Einsperrung im Namen des Kindeswohls durch das DJI und der erst vorsichtigen (11. Kinder- und Jugendbericht 2001: 239 f.) und dann entschiedenen Befürwortung geschlossener Unterbringung als Hilfe zur Erziehung (14. Kinder- und Jugendbericht 2013: 349 f.) ist mit einem weiteren Anstieg der Platzzahlen sowie der öffentlichen Akzeptanz dieser Form der Ausschließung zu rechnen.
Gegen diese vorherrschende Tendenz halten wir fest:
Es gibt keine schwierigen Jugendliche, es gibt schwierige Entscheidungssituationen, in denen Fachkräfte sich nach einer in der Regel heftigen Eskalation gezwungen sehen, sich für eine geschlossene Unterbringung zu entscheiden, weil sie keine Alternativen sehen. An dieser hegemonialen Praxis ist also anzusetzen, will man die geschlossene Unterbringung wirklich abschaffen.
Darüber hinaus gibt es in diesem Zusammenhang eine bislang im wissenschaftlichen und fachpolitischen Diskurs kaum beachtete, in der Praxis aber mittlerweile vorherrschende Technologie: die des „Stufen-Vollzuges“ oder „Phasen-Modells“. Dieses Konzept – inspiriert von den Bootcamps in den USA und behavioristischen Dressurexperimenten – fußt auf entwürdigenden und stigmatisierenden Degradierungs-Zeremonien, für die findige Professionelle ständig neue Bezeichnungen und Vokabeln erfinden.
Die Grundform dieser Praxis ist dabei jedoch immer die gleiche: In der Eingangsstufe oder Eingewöhnungsphase werden den Eintretenden die Verhaltensvorschriften für diese neue Situation bekannt gemacht, einschließlich der dazugehörigen Sanktionen, wenn sie nicht eingehalten werden, bzw. der Belohnungen, wenn man sich den vorgeschriebenen Regularien unterwirft. Diese Vorschriften sind immer belastend und entwürdigend, da sie die Bewegungsfreiheit, die Kommunikation und soziale Kontakte einschränken, Genussmittel verbieten, die Wahl der Kleidung reglementieren oder andere Schikanen erfinden, die als pädagogisch notwendige Strukturierung getarnt werden.
Nach „erfolgreicher“ Anpassung wird in der zweiten Stufe oder Orientierungsphase der Regelkatalog gelockert, so dass die „ProbandInnen“ in ihrem Interesse an Erleichterungen angesprochen werden. Bei Regelverstößen ist eine Rückkehr auf die vorherige Stufe oder Phase verbindlich vorgeschrieben.
Die letzte Stufe oder eine entsprechend charakterisierte „Normalphase“ enthält weitere Vergünstigungen, sofern man sich an die jetzt zwar noch weiter gelockerten, aber noch immer eingrenzenden Bestimmungen des Settings hält. Auch hier ist bei Verstößen eine Rückstufung möglich und üblich.
Das gesamte Setting verlangt von allen beteiligten Akteuren die strikte Befolgung aller Regeln. Erleben die Kinder und Jugendlichen die gewaltsame Struktur als Entwertung ihrer gesamten personalen und sozialen Identität, sind auch die Fachkräfte in einen schematischen Ablauf gepresst, der ihnen keine Freiräume der Entscheidung lässt und so vielfach ihrem professionellen Selbstbild widerspricht.
Derartige Stufenprogramme widersprechen grundlegenden Menschenrechten und sind nicht mit der Kinderrechtskonvention der Vereinigten Nationen zu vereinbaren (BMFSJ 2007). Sie verstoßen gegen den gesamten Tenor der Konvention, vor allem aber gegen Art. 12, in dem ausdrücklich festgehalten wird, dass die Willensäußerungen des Kindes „angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife“ zu berücksichtigen sind (grundlegend und ausführlich dazu: Waltraud Kerber-Ganse 2009). Da dieses Konvention in Deutschland unmittelbare Gültigkeit hat, müssen Einrichtungen, die mit derartigen Degradierungszeremonien arbeiten, abgeschafft oder zumindest gezwungen werden, ihre Arbeitsweisen fundamental zu verändern.
Was die „Insassen“ selbst wollen, belegen Mechthild Wolff und Sabine Hartwig in ihrer umfassenden Befragung von Jugendlichen zwischen zwölf und achtzehn Jahren in deutschen Heimen: „Das sind: ein Bottom-up-Prozess der Aushandlung zur Schaffung von Voraussetzungen für Beteiligung; eine pädagogische Grundhaltung des Personals, welche zu einem ‚Beteiligungsklima‘ in einer Einrichtung beiträgt; die konzeptionelle Festschreibung institutioneller Rahmenbedingungen; das Recht auf Seiten der Kinder und Jugendlichen zu einer eigenen Definition dessen, was Qualität und Quantität von Beteiligung in einem Heim ausmacht“ (Kerber-Ganse 2009:208).
Um sich einen Eindruck von der Praxis der „Dressur zur Mündigkeit“ zu verschaffen, hat der AKS Hamburg neun zufällig ausgewählte Einrichtungen danach untersucht, wie sie sich im Internet präsentieren. Diese Selbstdarstellungen werteten wir inhaltsanalytisch aus. Dabei orientierten wir uns an den vier Relationsmustern, die Marcus Hußmann (2011) in seiner Dissertation herausgearbeitet und die Timm Kunstreich (2012) auf sechs erweitert hat. Diese Relationsmuster sollen sowohl die zunehmende Symbiose von räumlicher Einschließung und sozialer Ausgrenzung als auch deren Auseinandertreten in einer Weise markieren, dass Texte der Selbstdarstellung von Trägern der Hilfen zur Erziehung nach entsprechenden Merkmalen und Indikatoren zugeordnet werden können.
Die beiden grundlegenden Relationsmuster sind institutionelle Verbindlichkeit und lebensweltliche Verlässlichkeit. Das erste geht von den einzuhaltenden Regularien und der Bestandserhaltung der Institutionen aus und steigert sich bei deren Nichteinhaltung bzw. Gefährdung zu fortschreitender Schließung und zu serieller Selbstbezogenheit. Räumliche Einschließung und soziale Ausgrenzung sind die Konsequenzen („totale Institution“). Die lebensweltliche Verlässlichkeit „orientiert sich am Jugendlichen“ (Kurt Hekele 2005) und ermöglicht in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen eine bestätigende Öffnung oder sogar ein gemeinsames Projekt. Diese Tendenz zu „gemeinsamer Aufgabenbewältigung“ (Eberhard Mannschatz 2010) realisiert sich in einer Praxis sozialräumlicher Öffnung bzw. Offenheit (ausführlich in Widersprüche, Hefte 133 und 134, 2014).
In unserer kleinen Stichprobe dominierte das Relationsmuster institutionelle Verbindlichkeit mit sieben Zuordnungen, gefolgt von der fortschreitenden Schließung und der seriellen Selbstbezogenheit (jeweils fünf Zuordnungen). In drei Selbstbeschreibungen war die lebensweltliche Verlässlichkeit der Ausgangspunkt mit deutlichen Hinweisen auf eine bestätigende Öffnung und auf gemeinsame Projekte (jeweils zwei Zuordnungen). Die institutionellen Prozeduren der sozialen Ausschließung und der räumlichen Einschließung dominieren also, auch wenn nicht zu unterschätzende Gegentendenzen lebensweltlicher Öffnung konzeptionell zu finden sind.
Der AKS Hamburg wird bis zum 3. Bundestreffen der AKS und vergleichbarer Initiativen (im November im Ruhrgebiet) weitere Konzepte untersuchen und bittet alle, eigene Recherchen zu machen und uns die Ergebnisse mitzuteilen. Auf diesem Treffen werden wir vorschlagen, die ganz offensichtlichen Verletzungen der Kinderrechtskonvention an den zuständigen Ausschuss für die Rechte des Kindes (Art. 43 der UN-Kinderrechtskonvention) zu senden, damit diese Verletzungen öffentlich bekannt werden und die Bundesregierung sich dazu positionieren muss. Diesem Ausschuss muss alle fünf Jahre berichtet werden, wie die Bestimmungen der Kinderrechtskonvention in jedem Mitgliedsland realisiert werden, bzw. wo das nicht der Fall ist. Der nächste Bericht ist 2019 fällig. Vorbereitet wird er vor allem von der „National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention e. V“., einem Verein, in dem über 100 öffentliche und private Träger zusammengeschlossen sind, um die Bestimmungen der Konvention umzusetzen. Wichtige Mitglieder des Vereins veranstalten am 21. und 22. Juli dieses Jahres in Darmstadt den Kongress: „Kinder mischen mit! Kinderrechtekongress“, auf dem Fachleute und Kinder/Jugendliche Konzepte und praktische Möglichkeiten diskutieren sollen, „wie Kinder über ihre eigenen Belange mitbestimmen können“ (aus dem Aufruf zum Kongress). Eine „Themeninsel“ wird auch zum Thema Heimerziehung angeboten werden. Auf dieser und auf vergleichbaren Veranstaltungen werden wir diesen Aufruf bekannt machen und verteilen.
(Infos: https://www.schrader-stiftung.de/veranstaltungen/artikel/kinderrechte-kongress/)
Literatur
- BMSFJ (Hg.)(2007): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderkonvention im Wortlaut mit Materialien. Texte in amtlicher Übersetzung (8. Auflage)
- Hekele, K. (2005): Sich am Jugendlichen orientieren, Weinheim/München
- Hußmann, M. (2011): „Besondere Problemfälle“ Sozialer Arbeit in der Reflexion von Hilfeadressaten aus jugendlichen Straßenszenen in Hamburg, Münster
- Kerber-Ganse, W. (2009): Die Menschenrechte des Kindes. Die UN-Kinderrechtskonvention und die Pädagogik von Janusz Korczak. Versuch einer Perspektivenverschränkung, Opladen/Farmington Hill
- Kunstreich, T. (2012): Nutzung der sozialen Infrastruktur. Eine exemplarische Untersuchung in zwei Hamburger Stadtteilen (Lenzsiedlung und Schnelsen-Süd), Region 2, Fachamt Jugend- und Familienhilfe Eimsbüttel, Hamburg
- Mannschatz, E. (2010): Was zum Teufel ist eigentlich Erziehung? Berlin
- Wolff, M., Hartig, S. (2006): Beteiligung – Qualitätsstandards für Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung. Abschlussbericht, Landshut
Kontakt: AKS Hamburg c/o Timm Kunstreich (timmkunstreich[at]aol.com)
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