Für die Verwirklichung der UN Kinderrechts-Konvention statt Überwachen und Erniedrigen in den Grauzonen der Hilfen zur Erziehung!
„Wenn das aber stimmt, gibt es Todsünden der Pädagogik, nämlich Arrangements und Umgangsformen, in denen Menschen nicht anerkannt werden, in denen sie nicht lernen können, sich selbst zu achten und zu mögen, in denen ihnen von anderen demütigend, stigmatisierend und strafend signalisiert wird, dass es kein Glück ist, dass sie auf dieser Welt sind, dass es besondere Herablassung braucht, damit sie überhaupt ausgehalten werden, dass sie sich Mühe geben müssen, damit sie irgendwo einen Platz in der Welt finden, die sie eigentlich nicht braucht.“ (Hans Thiersch 2014:24)
Manfred Kappeler zieht aus den Runden Tischen Heimerziehung in West und Ost folgendes Fazit: „Zuerst das Positive: der Kampf der ehemaligen Heimkinder und ihrer UnterstützerInnen hat sich gelohnt und lohnt sich immer noch, weil das jahrzehntelange Schweigen über die Gewalt, der Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung ausgesetzt waren, gebrochen werden konnte…..
Nun das Negative: Die Jugendhilfe hat sich im Ganzen ihrer Vergangenheitsschuld nicht gestellt. Das bedeutet auch, dass die Chance, aus der kritischen Selbstreflexion der ‚dunklen Seite‘ ihrer Geschichte für die Gegenwart und für die Zukunft zu lernen, weitgehend nicht genutzt hat. Die in vielen Bundesländern wieder praktizierte ‚geschlossene Unterbringung‘ von wieder als ‚verwahrlost und schwersterziehbar‘ definierten Kindern und Jugendlichen ist ein Beispiel dafür“ (2013:30).
Dass aus Heimkarrieren unter den Vorgaben des KJHG/SGB VIII Maßnahmen-Karrieren geworden sind, ist bekannt. Bekannt ist auch, dass am Ende beider Karrieren die geschlossene Unterbringung stand und steht. Sah es in den achtziger Jahren so aus, als würde die die geschlossene Unterbringung insgesamt abgeschafft und sah das neue KJHG dieses Instrument ausdrücklich nicht vor, so hat sich die Zahl der geschlossenen Unterbringungsplätze in den letzten 20 Jahren von ca. 125 auf knapp 400 mehr als verdreifacht. Nach der tendenziell positiven Evaluation dieser Einschließung im Namen des Kindeswohls durch das DJI und der erst vorsichtigen (11. KJB 2001:239f.) und dann entschiedenen Befürwortung geschlossener Unterbringung als Hilfe zur Erziehung (14. KJB 2013:349f.) ist mit einer weiteren Steigerung der Plätze sowie einer weiteren öffentlichen Akzeptanz dieser Ausschließung zu rechnen.
Das Ziel, die geschlossene Unterbringung abzuschaffen, ist unter diesen Umständen noch schwerer zu erreichen als bislang. Es ist deshalb notwendig, nicht nur diese selbst zu thematisieren, sondern auch alle Prozesse und Verfahren bzw. Technologien, die das Feld für die geschlossene Unterbringung vorbereiten und für ständigen Nachschub sorgen. Dafür müssen wir alle Tendenzen, die zu derartigen Verschiebebahnhöfen führen, untersuchen und kritisieren. Aus dieser Perspektive ist die geschlossene Unterbringung ein Produkt der gesamten Jugendhilfepolitik, insbesondere aber der versäulten Hilfen zur Erziehung:
Es gibt keine schwierigen Jugendliche, es gibt schwierige Entscheidungssituationen, in denen Fachkräfte sich nach einer in der Regel heftigen Eskalation gezwungen sehen, sich für eine geschlossene Unterbringung zu entscheiden, weil ihnen keine Alternativen zur Verfügung stehen. An dieser hegemonialen Praxis ist also anzusetzen, will man die geschlossene Unterbringung wirklich abschaffen.
In diesem Zusammenhang gibt es eine bislang im wissenschaftlichen und fachpolitischen Diskurs kaum beachtete, in der Praxis aber mittlerweile vorherrschende Technologie: die des „Stufen-Vollzuges“ oder des „Phasen-Modells“. Dieses Konzept – inspiriert von den Bootcamps in den USA und behavioristischen Dressurexperimenten – fußt auf entwürdigenden und stigmatisierenden Degradierungs-Zeremonien, auch wenn findige Professionelle für deren Bezeichnung ständig neue Vokabeln erfinden.
„Die Gewalt, die hunderttausende Betroffene in West und Ost in den öffentlichen Erziehungsheimen der 40er bis 80er Jahre erfahren mussten, hat viele Gesichter. Beispiele für Erniedrigung, Missbräuchlichkeit und Terrorisierung durch Drohung und Isolation gehören zu den häufigsten Berichten von Betroffenen: Arrest, Essensentzug, stundenlanges Stehen oder Schlafentzug bis hin zu körperlicher und sexueller Gewalt waren eher Regel denn Ausnahme“ (Schruth 2014:177). All dieses gibt es in abgewandelter, verschleierter und elaborierterer Form heute noch und gibt es in zunehmendem Maße wieder, auch wenn der Arrest jetzt Time-out Raum, Knebelungen jetzt „Begrenzungen“ heißen und die Modernisierung der heutigen Erniedrigungen im Vokabular der konfrontativen Pädagogik eine wissenschaftliche Legitimation erfährt. So können schon Kinder in Tagesgruppen wütend angeschrien und fertig gemacht werden, wenn sie sich den normativen Anforderungen der Institution nicht unterwerfen (Herz 2005).
Die Grundform dieser Praxis ist jedoch immer die gleiche und mittlerweile nicht nur in stationären, sondern auch in teilstationären (Tagesgruppen) und ambulanten Formen der Disziplinierung (vor allem in den Antiaggressionstrainings) zu finden: In der Eingangsstufe A oder der Eingewöhnungsphase werden den Eintretenden die Verhaltensvorschriften für diese neue Situation bekannt gemacht, einschließlich der dazugehörigen Sanktionen, wenn sie nicht eingehalten werden, bzw. der Belohnungen, wenn man sich den vorgeschriebenen Regularien unterwirft. Diese sind immer besonders belastend und entwürdigend, schränken sie doch die Bewegungsfreiheit, Kommunikation und soziale Kontakte ein, verbieten Genussmittel, reglementieren die freie Wahl der Kleidung oder erfinden andere Schikanen, die als pädagogisch notwendige Strukturierung getarnt werden.
Nach „erfolgreicher“ Anpassung wird in der Stufe B oder der Orientierungsphase der Regelkatalog gelockert, so dass die „Probanden“ in ihrem Interesse an Erleichterungen angesprochen werden. Bei Regelverstößen ist eine Rückkehr auf die vorherige Stufe oder Phase verbindlich vorgeschrieben.
Die Endstufe C oder eine entsprechend charakterisierte „Normalphase“ enthält weitere Vergünstigungen, sofern man sich an die jetzt zwar noch weiter gelockerten, aber noch immer eingrenzenden Bestimmungen des Settings hält. Auch hier ist bei Verstößen eine Rückstufung auf Stufe/Phase B möglich und üblich.
Dieses Setting verlangt von allen beteiligten Akteuren die strikte Befolgung aller Regeln. Erleben die Kinder und Jugendlichen die gewaltsame Struktur bestenfalls als Verwerfung (Anerkennung der Person bei deutlicher Verurteilung der Tat), meistens jedoch als Entwertung ihrer gesamten personalen und sozialen Identität, sind auch die Fachkräfte in einen schematischen Ablauf gepresst, der ihnen keine Freiräume der Entscheidung lässt und so vielfach ihrem professionellen Selbstbild widerspricht.
Derartige Stufenprogramme widersprechen grundlegenden Menschenrechten und sind nicht mit der Kinderrechtskonvention der Vereinigten Nationen zu vereinbaren (BMFSJ 2007). Da dieses Recht unmittelbare Gültigkeit in der BRD hat, müssen Einrichtungen, die mit derartigen Degradierungszeremonien arbeiten, abgeschafft werden oder zumindest gezwungen, ihre Arbeitsweisen fundamental zu verändern.
Waltraud Kerber-Ganse führt dazu in ihrer grundlegenden Untersuchung über die Menschenrechte des Kindes („Die UN-Kinderrechtskonvention und die Pädagogik von Janusz Korczak. Versuch einer Perspektivenverschränkung“ 2009) aus:
„Das Kind ist das Subjekt von Menschenrechten, das ist die Botschaft der Konvention…. Die Bedeutung dessen, was mit Subjektstellung des Kindes gemeint sein kann, ist also bei Korczak sehr konkret zu lernen ….. Die Reichweite der Forderung nach Nicht-Diskriminierung in der Konvention kann man mit Korczak besonders eindrücklich ermessen, nämlich als die Gleichheit von Erwachsenen und Heranwachsenden in der Wechselseitigkeit des gegenseitigen Respekts. Zu diesem Respekt gegenüber der Ebenbürtigkeit des Kindes gehört für Korczak auf Seiten des Erwachsenen, wie immer wieder betont, die Unermütlichkeit des Lernens vom Kind. Anerkennung des Rechtes des Kindes auf Achtung fordert dem Erwachsenen also ein Umlernen gerade im Alltäglichen ab“ (2009:155/156 – nach der Kinderrechtskonvention sind Kinder Menschen von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr).
Dass es dazu auch der Bundesrepublik gelingende Praxisbeispiele gibt, belegen Mechthild Wolff und Sabine Hartwig in ihrer umfassenden repräsentativen Befragung von Jugendlichen zwischen zwölf und 18 Jahren in deutschen Heimen, in denen sie eine der Kinderrechtskonvention entsprechende Beteiligungspraxis von Kindern und Jugendlichen folgendermaßen charakterisieren: „Das sind: ein Bottom-up-Prozess der Aushandlung zur Schaffung von Voraussetzungen für Beteiligung; eine pädagogische Grundhaltung des Personals, welche zu einem ‚Beteiligungsklima‘ in einer Einrichtung beiträgt; die konzeptionelle Festschreibung institutioneller Rahmenbedingungen; das Recht auf Seiten der Kinder und Jugendlichen zu einer eigenen Definition dessen, was Qualität und Qualität von Beteiligung in einem Heim ausmacht“ (Kerber-Ganse 2009:208)
Aufruf
Um einen Eindruck davon zu gewinnen und sichtbar machen zu können, in welchem Ausmaß in der BRD genau dieser respektvolle Umgang miteinander nicht praktiziert wird und stattdessen menschenrechtswidrige Stufen- und Phasenprogramme verfeinert werden, in denen Kinder und Jugendliche Objekte herrschaftlichen Handelns sind, rufen wir alle Arbeitskreise Kritische Sozialarbeit und vergleichbare Initiativen auf, in ihrer Stadt bzw. ihrem Bundesland die Hochglanzbroschüren und eindrucksvollen Internetauftritte von HzE-Trägern danach zu untersuchen, ob sie derartige Stufenvollzüge praktizieren. Dabei könnte zugleich auch eine Erhebung zu den verschiedenen Terminologien gemacht werden, damit der Übergang von „einfacher“ Dressur und Erniedrigung zu „modernisierter“ besser zu durchschauen ist.
In ausgewählten Einzelfällen, wie zum Beispiel der Haasenburg GmbH in Brandenburg und dem Schönhof in Mecklenburg-Vorpommern, sollte versucht werden, Musterprozesse gegen deren menschenunwürdige Praxis in Gang zu setzen.
Die Ergebnisse dieser Recherche sollten in einer gut vorbereiteten öffentlichen Fachtagung präsentiert werden.
Wer sich an diesem Projekt beteiligen möchte, wende sich bitte an den Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg: aks-hamburg[at]gmx.de.
Auf dem nächsten bundesweiten Treffen der Arbeitskreise Kritische Soziale Arbeit in Hannover am 21./22. November dieses Jahres werden wir über den Stand des Projektes berichten und mit allen beratschlagen, wie es weitergehen soll.
Literatur
BMSFJ (Hg.)( 2007): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderkonvention im Wortlaut mit Materialien. Texte in amtlicher Übersetzung (8. Auflage)
Herz, B. (2005): Ist die „konfrontative Pädagogik“ der Rede wert? Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 16:365-374
Kappeler, M. (2013): Heimerziehung in der (alten) Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik – und was wir daraus lernen können. Eine Textcollage, in: Widersprüche, 33, Heft 129): 17-33
Kerber-Ganse, W. (2009): Die Menschenrechte des Kindes. Die UN-Kinderrechtskonvention und die Pädagogik von Janusz Korczak. Versuch einer Perspektivenverschränkung, Opladen/Farmington Hill
11. Kinder-und Jugendbericht 2001: Bundesregierung Berlin
14. Kinder-und Jugendbericht 2013: Bundesregierung Berlin
Schruth, P. (2014): Perspektiven der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Opferinteressen ehemaliger Heimkinder – eine Verortung von Eindrücken, in: neue praxis, 44, Heft 2:176-192
Thiersch, H. (2014): Schwarze Pädagogik in der Heimerziehung, in: Widersprüche, 34, Heft 131:23-31
Wolff, M., Hartig, S. (2006): Beteiligung – Qualitätsstandards für Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung. Abschlussbericht, Landshut
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